Mit dem Begriff „Macht“ verbinden viele Menschen vor allem etwas Negatives: die menschenverachtende Ausübung von Macht durch Diktatoren und Autokraten, der Missbrauch von Macht durch kirchliche Amtsträger, das Gefühl von Ohnmacht angesichts der multiplen Krisen dieser Welt. „Macht ist überall und kommt von überall“, so formulierte bereits der französische Philosoph Michel Foucault (1926–1984). Nur lautet die Frage nicht, „wie Macht sich manifestiert, sondern wie sie ausgeübt wird“.
Macht ist also kein grundsätzlich notwendiges Übel, es gibt auch keinen machtfreien Raum. Machtverhältnisse gibt es in allen Bereichen des Lebens. Macht ist daher nicht zu inkriminieren. Aber sie enthält auch die Gefahr, sich zu entgrenzen. Macht kann in rechter Weise zum Wohl von Mensch und Gesellschaft ausgeübt, aber auch zum Schaden einzelner oder vieler missbraucht werden. Auch die Nichtwahrnehmung von Macht, das bewusste oder unbewusste Unterlassen kann als (passiver) Machtmissbrauch verstanden werden.
Dass ebenso in biblischen Texten ambivalente Machtstrukturen enthalten sind, die in liturgischen Feiern gelesen und verkündet werden, war Thema einer internationalen Fachtagung, die vom 1. bis 2. Oktober an der Theologischen Fakultät Paderborn stattfand. Dazu eingeladen hatten Prof. Dr. Stephan Wahle, Inhaber des Lehrstuhls für Liturgiewissenschaft, und Mag. theol. Philipp Graf, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Alttestamentliche Literatur und Exegese an der Universität Freiburg. Der Einladung folgten über 50 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, darunter eine große Zahl an Studierenden der Universitäten Freiburg und Duisburg-Essen sowie der Theologischen Fakultät Paderborn.
In den Einführungsvorträgen erläuterten Dr. Juliane Eckstein (Universität Mainz) und Prof. Dr. Stephan Wahle zunächst den aktuellen Forschungsstand zum Thema Macht in exegetischer bzw. liturgiewissenschaftlicher Perspektive. In vier ausgewählten Beispielen erfolgte sodann eine Konkretion. Prof. Dr. Georg Steins (Universität Osnabrück) untersuchte die verstörende Erzählung von der Bindung und Fast-Opferung Isaaks durch Abraham in Genesis 22 – ein biblischer Text, der in der katholischen Osternacht als eine von insgesamt sieben alttestamentlichen Lesungen vorgesehen ist, die Prof. Dr. Clemens Leonhard (Universität Münster) auf potentielle Machtkonstellationen befragte. Über Psalm 139 und weitere Psalmen in der Musik referierten Mag. theol. Philipp Graf und Prof. Dr. Meinrad Walter (Hochschule für Musik Freiburg). Psalm 139 ist ein beliebtes Reservoir für Taufsprüche und Vorbild eines bekannten Neuen Geistlichen Lieds („Von allen Seiten umgibst du mich“), dessen Racheanteile aber im Stundengebet genauso ausgeblendet werden wie die dunkle Seite der erdrückenden Gegenwart Gottes. So heißt es wörtlich nicht „Von allen Seiten umgibst du mich“, sondern „Von hinten und von vorne belagerst du mich“. Ein weiteres, in der Trauliturgie beliebtes Beispiel ist das sogenannte „Hohelied der Liebe“ im 13. Kapitel des 1. Korinterbriefes. Die feministische Exegese hat hier einige problematische Aspekte zum Machtgefälle zwischen Mann und Frau aufgedeckt, die in Seelsorge, Predigt und Liturgie kaum eingeholt werden. Unter anderem über die allzu schnelle Gleichsetzung partnerschaftlicher Liebe mit dem Ideal der Liebe in 1 Kor 13, über die „Fatale Liebe – die alles erträgt“, sprach Prof. Dr. Hildegard Scherer (Universität Duisburg-Essen) im Austausch mit Dr. Ann-Katrin Gässlein (Universität Luzern/LMU München), die ihrerseits ambivalente Machtstrukturen in Texten und Symbolen (katholisch-)kirchlicher Trauungsliturgie offenlegte. Ein vierter Themenblock bezog sich auf die bekannte Perikope von der Nachfolge durch Selbstverleugnung und Kreuztragen in Markus 8,34-38 (und den Parallelstellen bei den Evangelisten Matthäus sowie Lukas). Dr. Eva Puschautz (Universität Wien) betonte, dass dieses Jesuswort in seinem Kontext gelesen werden müsse und nicht als Handlungsanweisung zur Selbstkasteiung. Prof. Dr. Rita Burrichter (Universität Paderborn) widmete sich der Gestalt und Gestaltung ausgewählter Kreuzwegstationen in der Geschichte und Gegenwart und analysierte die Wechselwirkung zwischen dem Kunstwerk und den Betrachtenden.
Die Tagung zeigte, wie wichtig und förderlich ein interdisziplinärer Austausch über das Machtthema durch Exegese und Liturgiewissenschaft ist. Im Diskurs zeigte sich, dass einigen biblischen Texten eine fragwürdige Anthropologie oder problematische Aussagen zu Mann und Frau zugrunde liegen und dass es zuweilen auch ambivalente Gottesbilder gibt, die liturgisch rezipiert und verstärkt, teilweise aber auch ausgeblendet, uminterpretiert oder einseitig vereindeutigt werden. Angesichts der vielfältigen Erfahrungen, die Menschen zu allen Zeiten, besonders auch heute mit staatlicher wie kirchlicher Macht gemacht haben, ist eine vordringliche Aufgabe der Theologie als Wissenschaft, diese ambivalenten und teilweise problematischen (Tiefen-)Strukturen biblischer Texte und ihrer liturgischen Rezeption aufzudecken. Dass bei der Wirkungsgeschichte biblischer Texte auch weitere, kulturell bedingte Faktoren eine Rolle gespielt haben und noch heute spielen, soll in zusätzlichen Beiträgen in einem Sammelband beleuchtet werden, der im kommenden Jahr im Buchhandel erscheinen wird.