S. 341–343
Editorial
Jahrgang 114
Ausgabe 4/2024
Demokratie und Digitalität. Philosophisch-theologische Untersuchungen zu einem neuerlichen Strukturwandel der Öffentlichkeit
hg. von Martin Breul und Anne Weber
S. 341–343
Editorial
S. 236–250
Christiane Woopen ist eine der bekanntesten und einflussreichsten Ethikerinnen Europas. Sie war Mitglied (2001–2016) und Vorsitzende (2012–2016) des Deutschen Ethikrats, Co-Sprecherin der Datenethikkommission der deutschen Bundesregierung (2018– 2019), Mitglied des International Bioethics Committee der UNESCO sowie Vorsitzende der European Group on Ethics in Science and New Technologies. Sie ist Mitglied der Academia Europaea, der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste. Zudem ist sie Trägerin des Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse. Als ‚Öffentliche Intellektuelle‘ nimmt sie immer wieder Stellung zu aktuellen politischen und ethischen Fragestellungen und beeinflusst gesellschaftliche Selbstvergewisserungsdiskurse maßgeblich. Zudem ist sie ehemalige Stipendiatin der Bischöflichen Studienförderung Cusanuswerk und war als Delegierte beim Synodalen Weg aktiv.
S. 356–369
Theologie in den pluralen Gesellschaften der Spätmoderne ist legitimationsbedürftig. Dabei gibt es durchaus verschiedene Felder, wo Religion wie Theologie politisch wie öffentlich beansprucht werden. Dem versuchen diverse Varianten der Politischen wie der Öffentlichen Theologie reflexiv, kritisch wie konstruktiv zu begegnen. Diese Überlegungen wollen aus der Perspektive einer Öffentlichen Politischen Theologie das Ringen um demokratische Lebensformen als einen solchen theologischen Ort ausweisen.
Theology in the plural societies of late modernity is in need of legitimisation. There are certainly various fields in which religion and theology are claimed politically and publicly. Different variants of political and public theology attempt to counter this reflexively, critically and constructively. From the perspective of a public political theology, these considerations aim to identify the struggle for democratic forms of life as such a theological place.
S. 370–383
Unsere moderne Gesellschaft scheint in eine krisenhafte, verunsichernde und die Demokratie bedrohende Transformation hineingeraten zu sein. In der Vielzahl an Zeitdiagnosen und Reformvorschlägen hat der erst neulich verstorbene Soziologe Helmut Willke mit seiner Theorie „symbolischer Systeme“ einen eigenen Akzent zu setzen versucht. Aus seiner Perspektive erscheint es als problematisch, den gesellschaftlichen Herausforderungen durch mehr Mitbestimmung und mehr direkte Demokratie begegnen zu wollen. Denn die typisch moderne Überproduktion von Kontingenz und Komplexität und die mit ihr verbundene Eigenlogik gesellschaftlicher Systeme verbieten es, einseitig auf die individuelle Freiheit zu setzen. Der Blick muss sich wenden und auf die strukturellen Bedingungen von Freiheit reflektieren, auf das, was vor dem Handeln liegt.
Our modern society seems to be drawn into a transformation which resembles a crisis, which makes us feel unsure and which is menacing our democracy. Among the great variety of diagnoses of our time and proposals for reform, Helmut Willke, a recently deceased sociologist, has been trying to set his own priorities with his theory of “symbolic systems”. In his point of view, it seems to be problematic if we try to meet our social challenges by means of more codetermination and more direct democracy. For the typical modern overproduction of contingency and complexity and the inherent logic – which is connected with it – of social systems forbids counting exclusively on individual freedom. We must change our perspective and reflect on the structural conditions of freedom, on everything that precedes acting.
S. 384–399
Mit dem Gebrauch digitaler Technik verändern Menschen, was sie „Öffentlichkeit“ nennen und was demokratietheoretisch wichtig ist. Dieser Artikel begründet die These, dass in digitalen Räumen Diskursforen entstehen, die – so an Gary Schaal angelehnt gesagt – „verletzlich“ sind. Der Artikel rezipiert in der Perspektive Öffentlicher Theologie einen normativen Öffentlichkeitsbegriff deliberativer Politiktheorie, um dann Thesen zum „digitalen Strukturwandel der Öffentlichkeit“ zusammenzufassen und im Licht des normativen Öffentlichkeitsbegriffes zu evaluieren.
The use of digital technology transforms the sphere that humans call “public” and that is so important for democracies. The thesis of this article is: in digital spheres, places for discourse emerge but (said with Gary Schaal) they remain “vulnerable”. The article refers to a normative understanding of a deliberative public sphere, summarizes different theses on the “digital transformation of the public sphere” and evaluates these in the light if the normative understanding of the public sphere.
S. 400–409
Der Text nimmt unterschiedliche Formen algorithmisierter Entscheidungsprozesse in den Blick. Während bei algorithmenbasierten Entscheidungen die Verantwortungszuschreibungen lediglich komplizierter werden, entstehen in der Mensch-Maschine-Interaktion durch selbstlernende Algorithmen immer mehr Verantwortungslücken. Diese werden in diesem Text als mögliche Gefährdungen der Demokratie in theologisch-ethischer Perspektive reflektiert.
The text looks at different forms of algorithmic decision-making-processes. While the attribution of responsibility merely becomes more complicated in algorithm-based decisions, self-learning algorithms lead to a growing number of vacuums in terms of who is responsible in human-machine interaction. This text reflects on these challenges as potential threats to democracy from a theological-ethical perspective.
S. 410–427
Der Deutsche Ethikrat und die Leopoldina haben sich jüngst eingehend mit dem Verhältnis von Demokratie und Digitalisierung befasst. Auf Grundlage ihrer kritischen Untersuchungen wird erörtert, wie Digitalisierungsprozesse eine Gefährdung für die deliberative Demokratie darstellen oder zu einer Auflösung der deliberativen Ordnung führen können. Vor diesem Problemhorizont wird analysiert, inwiefern religiöse Ressourcen zu einer konstruktiven Gestaltung kommunikativer Kultur beitragen können.
The German Ethics Council and the Leopoldina have recently taken a close look at the relationship between democracy and digitalisation. On the basis of their critical investigations, the following will discuss how digitalisation processes pose a threat to deliberative democracy or can lead to a dissolution of the deliberative order. Against this background, the extent to which religious resources can contribute to the constructive shaping of communicative culture will be analysed.
S. 428–448
Dieser Artikel argumentiert, dass die Kritik an neuen Medien und sozialen Netzwerken wegen vermeintlich polarisierender und fragmentierender Auswirkungen auf die demokratische Öffentlichkeit irreführend ist. Stattdessen plädiert er dafür, digitale Öffentlichkeit in den weiteren gesellschaftlichen Kontext einzubetten, neue demokratische Dynamiken zu untersuchen, die sie freisetzen kann, und die Frage nach der öffentlichen Kontrolle derjenigen zu stellen, die die digitale Öffentlichkeit betreiben.
This article argues that the critique of new media and social networks for their alleged polarizing and fragmenting effects on the democratic public sphere is misleading. Instead, it calls for considering the digital public sphere in the broader social context, exploring new democratic dynamics that it can unleash, and addressing the question of public control over those who operate the digital public sphere.
S. 449–461
Otfried Höffe ist emeritierter Professor für Philosophie und Leiter der Forschungsstelle für Politische Philosophie an der Universität Tübingen sowie Professor für Praktische Philosophie an der Tsinghua Universität in Peking. Er ist einer der führenden Experten in der Ethik, der Rechtsphilosophie und der Politischen Philosophie, dessen Bücher in viele Sprache übersetzt wurden. Besondere Forschungsschwerpunkte liegen auf den Werken von Aristoteles und Kant. Er ist Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina sowie der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Zugleich hat sein Werk über die wissenschaftlichen Diskurse hinaus Bedeutung: Er war etwa Präsident der Nationalen Ethikkommission der Schweiz (2009–2015) oder Mitglied im „Expertenrat Corona“ des Landes NRW (2020–2021). Als Wissenschaftler und Öffentlicher Intellektueller nimmt er in unserem Interview Stellung zur Zukunft der Demokratie angesichts des digitalen Strukturwandels der Öffentlichkeit.